ÖPNV der Zukunft: Zwischen Boost und Burnout
Interview mit MDV-Geschäftsführer Steffen Lehmann
20. September 2023 | Lesezeit: ca. 12 Minute(n)Das Deutschlandticket bestimmt und beschäftigt den ÖPNV wie kein anderer Tarif. Der Tenor ist: Eine gute Lösung mit viel Potenzial – aber noch viel höherer Gefahr, dass es schon bald wieder „eingestampft“ wird. So sieht es Steffen Lehmann als Geschäftsführer des Mitteldeutschen Verkehrsverbunds (MDV). Im Interview erklärt er die Hintergründe und was fehlende Finanzierungen damit zu tun haben.
Herr Lehmann, Sie sind bereits seit 2009 Geschäftsführer des MDV und gehen nach Ihrer Wiederbestellung 2024 bereits in Ihre vierte Amtsperiode. Welche Meilensteine und Herausforderungen warten in den nächsten fünf Jahren auf den ÖPNV allgemein und den MDV ganz besonders?
Wir sprechen hier von der Periode von 2024 bis 2029. In dieser Zeit und für diese Zeit werden wir die MDV-Strategie 2030 sicherlich fortschreiben. Warum das? Weil es deutlich veränderte Rahmenbedingungen in der Gesellschaft und in unserer ÖPNV-Welt gibt. Beispielsweise wirken eine veränderte ÖPNV-Finanzierung, die Teuerungsrate insgesamt und der Fachkräftemangel allenorts. Aber vor allem auch wirken die Chancen, die in Künstlicher Intelligenz und Technologiesprüngen, in sich verändernden Raum- und Siedlungsstrukturen sowie in einem stärker werdenden Nachhaltigkeitsbewusstsein der Menschen stecken. Daran werden wir uns orientieren und zugleich wichtige Impulse für einen zeitgemäßen und leistungsstarken ÖPNV der Zukunft setzen.

Das Deutschlandticket hat die Rahmenbedingungen beispielsweise verändert. Ein Angebot, das die Diskussionen rund um den ÖPNV bestimmt hat wie wohl kein anderer Tarif bisher. Nun gibt es die ersten Erfahrungswerte in der Umsetzung. Wie schätzen Sie daher das Ticket heute ein?
Das Deutschlandticket ist ja aus dem 9-Euro-Ticket heraus entstanden und wurde sein Nachfolger. Das 9-Euro-Ticket war im Sommer 2022 bereits stark im Fokus – allerdings in einem anderen Setting. Dieses Setting lautete, den Bürgerinnen und Bürgern für kurze Zeit den Kostendruck aufgrund stark gestiegener Preise bei Energie und Kraftstoffen zu nehmen. Das kam an. Ein günstiges ÖPNV-Pauschalticket für einen ganzen Monat bewies sich als hochattraktiv und da war der gedankliche Sprung zum Abo nicht mehr weit. Das war die Geburt des Deutschlandtickets zu etwas erhöhten Konditionen, das aber immernoch wahnsinnig attraktiv ist, als langfristiger Beitrag konzipiert und seit Einführung entsprechend stark in der Bevölkerung nachgefragt wird.
Schon der Begriff „Deutschlandticket“ suggeriert: Dieses Produkt ist in Stein gemeißelt als Deutschlands kommender ÖPNV-Evergreen. Sehen Sie das auch so?
Dahinter steht eine politische Entscheidung, die unerwartet war. Für Endverbraucher*innen eine prima Sache: Einfach zu verstehen, attraktiver Preis, man kann es überall erwerben und es ist überall gültig. Hätte man uns das vor zwei Jahren gesagt, hätte jeder geantwortet: „No way! Das wird nie passieren.“ Und jetzt ist es da mit hohen Absatzahlen und viel positiver Resonanz. Neben den privaten Nutzer*innen freut sich auch die Wirtschaft: Endlich ein Jobticket, das sehr günstig im Preis und klar und einfach im Handling zu bestellen ist. Doch ein Evergreen muss gepflegt werden, damit er weiter gedeiht. Da bin ich derzeit begründet skeptisch.
Bevor wir über diese Skepsis sprechen: Kann man den Erfolg des Tickets in Zahlen messen?
Unsere Verkehrsunternehmen verzeichneten bereits in den ersten Monaten einen hohen Zuwachs bei Abonnenten. Dazu zählten bestehende MDV-Abonnent*innen als auch Abo-Neukund*innen, die vorher wohl eher mit Einzelfahrscheinen oder Wochenkarten unterwegs waren. Manch einer wird sagen: „Tolles Plus an Nutzer*innen – warum beklagt Ihr Euch über eine mangelnde Finanzierung?“ Einer der Gründe ist: Bei den bisherigen Nutzer*innen ist der Umsatz um etwa 50 Prozent zurückgegangen, denn die mit dem D-Ticket verbundene Preisabsenkung kann aktuell nicht durch zusätzlich verkaufte Tickets kompensiert werden. Der zentrale Gewinn am D-Ticket liegt in seiner niedrigen Einstiegsschwelle in den ÖPNV und seiner hohen Aufmerksamkeit.
Ein Ergebnis, das sich auch die Politik ans Revers heften kann?
Sicherlich. Sie machte die Vorgaben und gab den Rahmen vor, um klimapolitisch und sozialpolitisch ein konkretes Angebot zu machen. Das ist gelungen. Die Reihenfolge war allerdings unorthodox: erst eine Tarifveränderung zu beschließen und erst später über einen Systemausbau zu diskutieren, der diese Veränderung auch abbilden kann. Für künftige Vorhaben kann die Politik gern anspruchsvolle Termine planen, aber bitte auch die zu organisierenden Prozesse und Ressourcen der Branche beachten.
Lassen Sie uns hier einmal genauer hinschauen. In welche Situation brachte die Einführung des Deutschlandtickets die Verkehrsunternehmen?
Grundsätzlich: Die Branche begreift das Deutschlandticket als Chance, trotz vielen Unsicherheiten und einer schwierigen Startphase. Doch allein wenn man sich das extrem enge Zeitfenster anschaut, ahnt man vielleicht den Druck, den das Ticket erzeugte: Gesetzbeschluss Ende März – und Start Anfang Mai inklusive technischer Umsetzung und Kommunikation. Wir haben das geschafft... aber man schafft so etwas Komplexes nicht ständig in so einem verdichteten Zeitfenster.
Geben Sie doch uns einen Einblick, was dabei im Motorraum der Verkehrsunternehmen passierte.
Die Einführung hat unseren Kolleginnen und Kollegen viel abverlangt. Extrem viel. Vom Fahrpersonal bis zur Verwaltung befinden sich alle bis heute in einem extremen Anspannungsmodus. Erst kam der Einbruch an Fahrgästen durch Corona, und danach der Boost durch das Deutschlandticket als komplettes Gegenteil. Durchschnaufen, sich sortieren, die eigene Arbeit reflektieren? Das kommt seit fast drei Jahren nicht in Frage. Eine Dauerveränderung unter Hochleistung mit dünner Personaldecke zu leisten ist hochkritisch. Wäre das System ÖPNV ein Mensch, würde man sagen: Achtung, nicht dass der Burnout droht.
Ist es nicht dennoch hervorragend, wenn man ein neues Tarifprodukt einführen soll, das viele bisherigen Tarife ablöst?
Darin steckt ein Denkfehler. Wer hat denn gesagt, dass das Deutschlandticket andere Tarife ablöst? Wir wissen ja noch gar nicht, ob es das Deutschlandticket nächstes Jahr noch gibt. Deshalb müssen wir die bisherige Tarif-Welt immer noch aufrechterhalten. Wir bespielen also mit den gleichen Ressourcen zwei Welten. Das bekommt man eine Weile hin, wenn man gut zusammenarbeitet und mit positiver Mentalität viele Herausforderungen gut auf die Straße bringt. Aber irgendwann ist dieser Reifen heruntergefahren, und dann kommt die Felge. Es kreischt und knirscht und die Funken sprühen. Das kann niemand wollen. Ein Mitarbeiter von uns hat die Belastung kürzlich gut auf den Punkt gebracht. „Wir sind ständig am Jonglieren – aber nicht mit Hacky Sacks, sondern mit Bowling-Kugeln.“
Was müsste also passieren?
Planungssicherheit auf breiterer Linie. Ganz einfach. Ein Bekenntnis der Politik, dass sie den ÖPNV als Ganzes finanziell langfristig stark unterstützt, weil sie erkennt, dass die Einhaltung der Klimaschutzziele ohne den Nahverkehr nicht funktionieren kann.
Wie sieht diese Planung derzeit denn aus?
Außergewöhnlich kurzsichtig. Die Mittel für das Ticket sind gesichert bis Ende 2023. Danach herrschen Unklarheit und fehlende Bekenntnisse zur Finanzierung. Wenn das nicht bis Herbst 2023 gesichert ist, steht das „D“ im D-Ticket nicht mehr für Deutschland, sondern für Desaster. Denn dann laufen wir Gefahr, es wieder einzustampfen.
„Die Finanzierung fehlt“ ist schnell gesagt. Wo genau soll die Finanzierung denn greifen?
Die Finanzierung muss für vier Bereiche gesichert werden. Erstens: für die Tarifmindereinnahmen durch die politisch initiierten Preisabsenkungen infolge des Deutschlandtickets. Zweitens: für den Betrieb des aktuellen ÖPNV-Angebotes. Drittens: für den Ausbau des Gesamtangebots und viertens für Investitionen in die Infrastruktur.
Der Betrieb des dichten Tram- und Busnetzes in Halle und Leipzig sowie die vielen Neuerungen in den Landkreisen durch Züge, PlusBusse und Stadtbusse kosten heute etwa 700 Mio. Euro. Damit sind heute etwa 1,5 Mio. Menschen im MDV-Raum so erschlossen, dass mindestens jede Stunde ein ÖPNV-Angebot besteht. Oft ist die Taktung noch dichter. Zum Vergleich: Der Bau von einem Kilometer zusätzlicher Autobahn kostet etwa 25 Mio. Euro. Lasst uns deshalb miteinander ins Gespräch kommen. Gemeinsam finden wir Lösungen für Aufgaben, denen wir gerade gegenüberstehen. Das ist wohl so etwas wie meine Arbeits- und zugleich Lebensmaxime.
Betrachten wir zuerst den Finanzierungsausgleich für das Ticket.
Wie gesagt: Bis Ende 2023 ist es vollständig gesichert. Ab Januar soll das Risiko aber deutlich stärker auf die Kommunen verlagert werden, da der Bund die Mittel bei 3 Milliarden Euro deckelt. Die Branche rechnet durch das Deutschlandticket aber mit einem Verlust von mehr als 4 Milliarden Euro. Bund und Länder können nicht erwarten, dass die Kommunen dieses Delta stemmen. Die Kommunen haben das Ticket nicht bestellt und können es sich nicht leisten. Punkt. Stand jetzt werden wir also Anfang 2024 in eine Situation kommen, in der das Ticket krass unterfinanziert sein kann und deshalb nicht fortgeführt werden würde. Das würde bei Bürgerinnen, Bürgern und in der Wirtschaft für riesigen Frust sorgen. Um also Planbarkeit zu bekommen, muss bis Oktober 2023 die Entscheidung her, dass Bund und Länder die vollständige Finanzierung der durch Preisabsenkung entstehenden Mindereinnahmen tragen.
Dann ist da der laufende Betrieb des ÖPNV an sich, der unter Finanzierungsdruck steht. Was steckt hier dahinter?
In den vergangenen zehn Jahren stiegen die Kosten für die Verkehrsunternehmen für den Betrieb kontinuierlich. Das ließ sich glücklicherweise abfedern, da zugleich auch die Zahl der Fahrgäste stieg und Tarifanpassungen vorgenommen wurden. In konkreten Zahlen heißt das: In den letzten acht Jahren ist unser mitteldeutsches Nahverkehrssystem 100 Millionen Euro teurer geworden, was über Mehreinnahmen kompensiert werden konnte.
Was hat sich daran verändert?
Seit 2022 verzeichnen wir bei der Kostenentwicklung den Faktor Drei. Die gestiegenen Energiepreise sowie Personalaufwendungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Dazu kommt, dass die Verkehrsunternehmen mögliche Tarifanpassungen beim Deutschlandticket als Flaggschiff gar nicht vornehmen können, da der Preis ja vom Bund vorgegeben wird. Die logische Frage lautet daher: Wie können wir mit unseren Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen im MDV den laufenden Betrieb zukünftig finanzieren?
Verstehen das die politischen Entscheider*innen?
Das zu vermitteln ist unsere Mission. Im Deutschlandticket steckt schließlich ein hohes Maß an politischer Einflussnahme und damit Verantwortung. Deshalb müssen wir uns dringend zusammen an einen Tisch setzen, und neue Lösungen diskutieren, damit Bund, Länder und Kommunen wieder ein klareres Bild zur Finanzierung haben. Denn das Deutschlandticket hat die bisherigen Finanzierungsmechanismen entscheidend ausgehebelt.
Sie haben als nächste Stichworte den Angebotsausbau und die Finanzierung der Infrastruktur genannt. Können Sie diese Punkte genauer erklären?
Für Mitteldeutschland gibt es zwei Szenarien für die Zukunft. Szenario 1: Wir halten das Nahverkehrsangebot in den nächsten Jahren. Szenario 2: Wir bauen das Angebot deutlich aus. Ganz gleich, worauf es hinausläuft, muss man sich fragen: Was bedeutet das für die Fahrzeuge und Fahrwege? Für die begleitende Infrastruktur wie Fahrgastinfosysteme? Wie kann ich einen Standard weiter ausbauen? Wo finde ich die Ressourcen für die Konzeption, Planung und Sicherung der Infrastruktur? Und falls es tatsächlich zu einem notwendigen Ausbau kommen sollte: Wie halte ich dafür meine Fachkräfte und finde zugleich neues Personal? Man muss sich für eines der Szenarien positionieren und dann schauen, was das kosten wird. Und welchen Nutzen wir davon gesamtgesellschaftlich und hier in der mitteldeutschen Region haben werden.
Welchen Gewinn hätten wir denn von einem Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur?
Der Klimawandel steht vor unserer Haustür. In Kanada brannten die Wälder, in Slowenien standen 60% des Landes unter Wasser, in Griechenland werden Menschen evakuiert, und die Katastrophe im Ahrtal ist unvergessen. Wir sind nun 8 Milliarden Menschen auf dem Globus. Wir erwarten außerdem weltweite Wanderungsbewegungen infolge von Klimaveränderungen. Deshalb müssen wir länderübergreifend daran arbeiten und gemeinsam handeln. Der Gewinn eines Ausbaus der Infrastruktur wäre also, den Lebensstandard unserer Gesellschaft und auch unserer benachbarten Kontinente zu sichern, indem wir hier in Deutschland und anderen Ländern jetzt investieren und versuchen, die immens höheren Folgekosten zur Beseitigung der Klimaschäden einzudämmen und jedem Menschen seine Heimat bewahren können.
Wie kann das beispielsweise vor Ort gelingen?
Wir müssen weitere Lösungen für nachhaltige Mobilität in die Mitteldeutsche Region bringen. Indem wir zum Beispiel Quartiere in den Städten, Tramlinien Gewerbegebiete und den ländlichen Raum noch umfassender mit dem Rad und dem Nahverkehr erschließen. So haben viele Landräte in den vergangenen Jahren mutige Entscheidungen getroffen, zum Beispiel mit der Entscheidung für den PlusBus, für ein modernes S-Bahn-Netz und für mehr Haltestellen in den Dörfern. In fast allen Landkreisen innerhalb des MDV haben wir einige 100 neue Haltestellen installiert und mehr Busangebote auf die Straße gebracht. Mobilität kann also ein Lösungsbaustein für alle sein. Für das Jetzt und Hier und das Morgen.
Der PlusBus bietet in ländlichen Regionen unter anderem Busse im Stundentakt an sowie direkte Anschlüsse zur Bahn. Inwiefern ist dieses Konzept klimapolitisch sinnvoll?
Der Zuspruch zum PlusBus zeigt: Das Interesse in der Bevölkerung an enger vernetztem und getaktetem ÖPNV in ländlichen Gebieten ist groß. Jetzt noch viel mehr, da viele das Deutschlandticket gekauft haben. Blöd allerdings, wenn dann gar kein Bus fährt und der nächste Bahnhof damit in weite Ferne rückt. Deshalb braucht es hier wie in den großen Städten einen weiteren Ausbau und die dazugehörende Finanzierung. Man braucht dafür keinen besonders Weitblick, da Vieles verhältnismäßig schnell umsetzbar ist.
„Weitblick“ ist ein gutes Stichwort: Wie genau möchten Sie die Zukunft des ÖPNV mit der MDV-Strategie 2023 angehen?
Wir werden uns jetzt mit unseren Gesellschaftern zusammensetzen, um unser Zukunftsbild bis circa 2030 zu aktualisieren. Darin werden wir auch die veränderten Rahmenbedingungen wie Kostensteigerung, Produktion des Nahverkehrs, Fachkräftemangel, KI und Digitalisierung, die Erwartung der Wirtschaft an die Mobilität, politische Rahmenfaktoren, Raumentwicklung sowie Demographie und vieles mehr berücksichtigen. Dieses Bild werden wir die nächsten sechs Monaten zeichnen und haben dann einen gemeinsamen Handlungskompass für Städte, Landkreise und Verkehrsunternehmen. Das Motto: Wir wollen nicht einfach nur reagieren auf Situationen, sondern aktiv und konkret handeln. Ich bin überzeugt, dass wir auch wieder Themen aufgreifen, mit denen wir bundesweit neue Akzente setzen werden. Eines ist aber klar: Vieles muss sich jetzt verändern. Es gibt wahnsinnig viel zu tun. Wir beim MDV sind mutig – und jetzt brauchen wir auch eine mutige Branche und Politik, die alte Zöpfe abschneidet und sich zum ÖPNV der Zukunft bekennt.
Bildquelle: Christian Hüller
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