Tramspotting: mit der Kamera am Gleis
4. Januar 2024 | Lesezeit: ca. 4 Minute(n)Die einen haben es auf seltene Tram-Modelle abgesehen, die anderen wollen einfach nur einen Schnappschuss: Tramspotter gibt es in vielen Städten. Was genau sie an ihrem Hobby fasziniert, kann sehr unterschiedlich sein. Was sie eint, ist ihre Begeisterung für den öffentlichen Nahverkehr. Ihre Bilder teilen und diskutieren sie meist in sozialen Netzwerken.
Einfach draufhalten und losknipsen? Nein. Wenn Tim Schiller am Gleis steht, hat er sich alles genau überlegt: seine Perspektive, die Lichtverhältnisse, den Hintergrund, die Uhrzeit. Seine Kamera ist bereit, die Einstellungen gewählt. Dann muss er nur noch auf sein Motiv warten. Es müsste jeden Moment um die Ecke kommen. Zuerst hört Schiller es nur. Ein hohes Klingeln. Ein schweres Rattern. Dann kommt der N-TGZ ins Bild. Ein kantiger gelber Niederspur-Tatra-Großzug mit blau umrandeten Fenstern. Eine schon etwas in die Jahre gekommene Tram einer älteren Baureihe der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB).
Viele würden Schiller einen Tramspotter nennen. So bezeichnet man Menschen, deren Leidenschaft das „Spotten“ (von engl. „to spot“ erkunden bzw. entdecken) von Straßenbahnen ist. Abgeleitet ist der Begriff vom bekannteren Trainspotten. Da geht es um Züge. Spotter sind aber auch in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens aktiv: Vögel, Flugzeuge und Autos sind nur einige wenige davon.
Schiller selbst mag den Begriff eigentlich nicht. „Es gibt einen Unterschied zwischen Spotten und Fotografieren“, sagt der 21-Jährige. „Das, was meine Freunde und ich machen, ist Fotografie.“ Spotter hingegen würden meist nur spontan das Handy zücken und ein Video oder Bild machen. Was sie aber alle gemeinsam haben: die Begeisterung für den ÖPNV. Viele teilen ihre fotografischen Werke auf Instagram, Facebook oder TikTok. Dort gibt es aktive Communitys, meist städteweise organisiert, in denen sich Spotter austauschen und fachsimpeln. „Man kennt sich“, sagt Schiller, „es sind auch viele langjährige Freundschaften durch das Hobby entstanden. Wir gehen oft zusammen fotografieren.“
Autodidakt mit Begeisterung für die Geschichte des ÖPNV
Schiller hat sich sein „Handwerk“ selbst beigebracht. Weil er schöne Aufnahmen von den Bussen und Straßenbahnen machen wollte. Was mittlerweile sein Hobby ist, entstand nur nebenbei: Er las viel zur Geschichte Leipzigs, seiner Heimatstadt, die ihn interessierte. Dabei stieß er auf alte Karten des Nahverkehrs – und war begeistert. Von der allerersten Verbindung bis zum heutigen Netz kennt er jeden Entwicklungsschritt. Monatelang hat er Zeichnungen und Pläne davon angefertigt und digitalisiert.
Sein „ältestes“ PDF zeigt den Gleisplan vom Mai 1872. Darauf: die „Leipziger Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft“. Der erste Nahverkehr der Stadt. Er bestand nur aus einem kleinen Ring mit drei Linien. Die Ringlinie, die Reudnitzer Linie nach Osten und die Connewitzer Linie nach Süden. 20 Jahre später gab es schon viel mehr Linien, die aus der Innenstadt hinausführten. Heute ist daraus ein feinmaschiges Netz geworden, das die Metropole Leipzig mit der Umgebung verbindet. Die Begeisterung für die historische Entwicklung würde Schiller gern weitergeben: „In Zukunft möchte ich dem Straßenbahnmuseum meine Hilfe anbieten. Ich kann viel über die Geschichte des Netzes erzählen und mit Gleis- und Liniennetzplänen umgehen.“
Spotter gibt es in jeder Stadt mit Nahverkehr
Die Interessen von Spottern und Fotografinnen sind sehr unterschiedlich. Schiller fasziniert vor allem, wohin die Trams fahren, warum sie umgeleitet werden und wie sie das Netz zum Leben erwecken. Auf seinen Aufnahmen sind immer die Liniennummer und die Endstation zu sehen. Es gibt aber auch Nahverkehr-Fans, die seltenen Fahrzeugmodellen hinterherjagen. Wie zum Beispiel den Tatras, die eigentlich aus dem Fahrbetrieb der LVB genommen wurden, ersatzweise aber noch zum Einsatz kommen.
Spotter gibt es in jeder Stadt mit ÖPNV, sagt Schiller. Ob jünger oder älter – „sie kommen in jeder Ausführung“. Schiller konzentriert sich auf Leipzig, andere reisen von Stadt zu Stadt oder raus aufs Land, um die großen Bahnen zu knipsen, also „ICE und Co.“.
Manche winken, andere ziehen das Rollo runter
Schiller lichtet meist den Triebwagen ab. Die Fahrerinnen und Fahrer macht er in der Nachbearbeitung unkenntlich. „Manche wollen nicht fotografiert werden. Sie halten sich die Hand vors Gesicht oder ziehen ihr Rollo runter“, sagt er. Es sei auch schon vorgekommen, dass jemand ungehalten reagiert oder angehalten und ausgestiegen sei: „Einer ist mir mal sehr nah gekommen und hat gesagt, dass er nicht fotografiert werden will.“ Ein anderer wollte ihn sogar anzeigen. Schiller sagt, er reagiere dann ganz ruhig, zeige Bilder von anderen Tagen, dass er die Fahrerinnen und Fahrer alle zensiere. Auch wenn er das nicht muss. „Laut Paragraf 23 des Kunsturhebergesetzes sind Fahrer nur Beiwerk. Darüber versuche ich auch aufzuklären“, sagt er.
Nicht immer muss er die Fahrerinnen und Fahrer unkenntlich machen. Manche freuen sich über die Fotos, die Schiller ihnen gern zusendet. Andere sind seine Freunde – und mittlerweile Kollegen und Kolleginnen. Denn Schiller macht sein Hobby gerade zum Beruf. Er lässt sich bei der LVB zum „Bimmelfahrer“ ausbilden, wie er das nennt. Zum Tramfahrer. Voraussichtlich Ende des Jahres wird er das erste Mal allein eine Straßenbahn durch Leipzig steuern.
Vielleicht bietet sich dann schon bei seiner ersten Fahrt die Gelegenheit und er kann lächeln und winken – wenn ein Spotter oder eine Fotografin neben dem Gleis auf seine Tram wartet. Für das perfekte Bild.
Bildquellen
Titelbild: Christian Hüller
Bilder LVB-Trams: Tim Schiller
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