Zwischen Euphorie und Einschnitt – Interview mit MDV-Geschäftsführer Steffen Lehmann

15. Juli 2022 | Lesezeit: ca. 9 Minute(n)
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Angebote wie das 9-Euro-Ticket und ABO Flex sowie die notwendige Verkehrswende machen den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) so attraktiv und wichtig wie nie zuvor. Zugleich stehen die Verkehrsunternehmen im Mitteldeutschen Verkehrsverbund (MDV) vor massiven Kostenproblemen. Ein Kraftakt steht bevor, macht MDV-Geschäftsführer Steffen Lehmann im Interview deutlich.

Herr Lehmann, das 9-Euro-Ticket ist auch im MDV das größte Thema des Sommers. Kann man das so sagen?

Definitiv. Wir haben uns im Vorfeld des Einführungsstarts mit nichts Anderem beschäftigt. Gefühlt zumindest. Denn was da an Abstimmungen, Vorbereitungen, Koordination und Teamwork dahintersteckt, kann man sich kaum vorstellen. Aber das Wichtigste ist: Die Einführung hat geklappt und das Ticket ist ein Riesenerfolg. Wir haben im MDV allein für Juni über 380.000 Tickets verkauft und für weitere 275.000 AbonenntInnen, Studierende und SchülerInnen die Abos auf 9-Euro-Ticket umgestellt. Das heißt in Summe: nahezu jeder dritte Einwohner im Mitteldeutschland hatte im Juni ein 9-Euro-Ticket in der Tasche. Verrückt und toll!

Eine Erfolgsgeschichte also ...

... deren Ausmaß nicht klar war, weil wir alle mit solch einem Konzept noch keine Erfahrungen hatten. Dabei darf man nicht vergessen: Die Wirkung rückt Aspekte noch viel stärker in den Mittelpunkt, die weit über das Angebot eines sehr günstigen Tickets für eine begrenzte Zeit hinausgehen.

Woran denken Sie dabei?

Das Angebot hat nicht nur eine sozialpolitische Komponente, sondern könnte auch ein Meilenstein in der Verkehrspolitik unseres Landes sein. Auf einmal gibt es die Diskussion, ob man nicht dauerhaft ein vergleichbar einfaches Ticket anbieten könnte. Ebenso ist der Blick auf die Erschließung des gesamten Landes mit dem Nahverkehr im Fokus. Die FDP ist da aus meiner Sicht verhalten, die Grünen werben für eine offensive Herangehensweise nach dem Sommer. Das war zu erwarten, aber auf jeden Fall ist diese Diskussion auf Bundesebene jetzt sehr präsent.

Die Verkehrswende ... man liest darüber immer mal wieder. Was steckt genau dahinter?

Unsere Lebensräume – auch in Europa - erhitzen spürbar. Das liegt daran, dass der CO2 Mantel um die Erde herum ein ausreichendes Abstrahlen der Sonnenenergie verhindert. Lösungen wirken nicht sofort, um so entsetzlicher, dass aus meiner Sicht so wenig getan wird. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft muss den CO2 – Ausstoß deutlich reduzieren. Alle Branchen arbeiten daran, nur allein der Verkehrssektor schafft das bisher nicht ansatzweise! Seit Jahren erzeugt allein der Verkehr in Deutschland jährlich 130 Millionen Tonnen CO2. Eine Reduktion gab es bisher höchstens in homöopathischen Dosen – dabei müssten wir das Niveau auf etwa 60 Millionen Tonnen senken, also um rund 55 %! E-Autos genügen da nicht und Bestromung geht auch nicht komplett emissionsfrei. Das geht nur mit einem massiven Ausbau eines Mix aus deutlich mehr ÖPNV-Angeboten, deutlich mehr Fahrradverkehr und einem größeren Sharingangeboten.

"Dieser Paradigmenwechsel kostet Geld – und das steht Stand jetzt nicht zur Verfügung. Das ist der Hemmschuh."

Einfach mehr Busse und Züge anbieten und dazu richtig günstige Tickets für alle – wäre damit das Problem nicht gelöst?

Theoretisch ja. Die Praxis zeigt aber: Das braucht Zeit und Geld. Und noch viel wichtiger: Das braucht Bereitschaft. Die Bereitschaft der Menschen, den ÖPNV mehr zu nutzen – und das haben sie zur Einführung des 9-Euro-Tickets gezeigt, flankiert mit politisch gesetzten Anreizen. Und die Bereitschaft seitens der Politik, deutlich in den Systemausbau zu investieren? Daran hapert es nach meiner Einschätzung noch spürbar.

Wie realistisch ist denn solch ein Ausbau?

Der erste Schritt ist schnell machbar. Er lautet: Die Nachfrage durch veränderte politische, verkehrliche und branchenrelevante Rahmenbedingungen so hochzufahren, dass die Nachfrage zu den vorhandenen Angeboten massiv steigt. Wenn man attraktive Angebote hat, nutzen die Menschen auch häufiger den ÖPNV. Parallel geht man dann den infrastrukturellen Ausbau insbesondere auf der Schiene für die Trams und Züge an. Und bis dieser Schritt umgesetzt ist, könnte man zum Beispiel Bus-Expresslinien zwischen Stadt und Region und innerhalb der Städte anbieten, um Gewerbegebiete, Einkaufszentren jeweils mit den Wohnstandorten besser oder häufiger zu verbinden.

Was so gut klingt, muss ja einen Hemmschuh haben. Sonst wäre es doch schon längst so weit.

Stimmt. Dieser Paradigmenwechsel kostet Geld – und das steht Stand jetzt nicht zur Verfügung. Das ist der Hemmschuh. Wir als Verbund mit unseren 14 Verkehrsunternehmen wissen nicht, ob die Bundespolitik vorrangig das notwendige Geld zur Verfügung stellen möchte. Und die Industrie als Fahrzeughersteller für Züge, Busse und Straßenbahnen weiß es auch nicht und hält deshalb auch nicht die erforderlichen Produktionskapazitäten bereit, die notwendig wären, um schnell mehr Fahrzeuge verfügbar zu haben.

Reden wir doch einmal Tacheles. Was bedeutet das in Zahlen?

Neben den bisherigen Bundesmitteln in Höhe von ca. 12 Mrd. € braucht es bundesweit jährlich erhebliche Mittel, so dass im Jahr 2030 dann 11 Milliarden zusätzliche Mittel für den Nahverkehr zur Verfügung stehen, um einen massiven Paradigmenwechsel herbeizuführen.

11 Milliarden Euro sind eine stolze Summe ...

Natürlich. Doch sie dienen dazu, Mobilität auch im Zeichen des Klimawandels für alle zu ermöglichen, die Zukunft der nächsten Generation zu ermöglichen und den Zwang in vielen Lebenssituationen zum Autobesitz aufzulösen. Das wäre ein Riesenschritt für alle Menschen in unserem Land. Wir haben in der bundesweiten Nahverkehrsbranche im Jahr 2021 in einem Strategiepapier aufgezeigt: Die Verkehrsleistungen müssen innerstädtisch und regional um 60% wachsen. Wir brauchen zum Beispiel doppelt so viele regionale Buslinien, müssen in den Städten und auf den Zugstrecken ca. 30% mehr Leistung ermöglichen. 

"Wir haben die größte Kostenexplosion seit der Wende."

Die Bundesregierung und die Länder sind aber nicht Hogwarts. Sie können das Geld nicht herzaubern. Müsste man solche Ausgaben nicht auch gezielt gegenfinanzieren?

Das muss man und es lässt sich auf drei Säulen verteilen. Erstens: Wir Endverbraucher*innen und Nutzer*innen des ÖPNV werden an den steigenden Kosten beteiligt. Zweitens: Der Bund erhöht die Mittel, indem er zum Beispiel Subventionen für Dienstwagen einstampft und diese Subventionen in den ÖPNV umleitet. Und drittens: Die Länder übernehmen einen Teil der Finanzierung – auch wenn die Umsetzung der Klimaschutzziele eigentlich in der Verantwortung der Bundespolitik liegt.

Und doch scheitert es an der Praxis...

Nicht unbedingt. Denn im MDV haben wir in den letzten acht Jahren zum Beispiel zahlreiche Busnetze komplett neu geordnet und Angebote wie den PlusBus und den TaktBus eingeführt. Das ging nur Hand in Hand mit den Verkehrsunternehmen, den Aufgabenträgern und den Bundesländern. So gibt es heute in unserem Verbundgebiet über 40 Linien, die die Vernetzung zwischen Eisenbahn und Umland sicherstellen. In den Oberzentren Halle und Leipzig wiederum ist die Sanierung und der Ausbau des Straßenbahnnetzes und die Umrüstung der Fahrzeuge ein großes Thema, das gerade in der Umsetzung ist. Und wir kommunizieren bei gewerblichen Unternehmen und Arbeitgebern das Betriebliche Mobilitätsmanagement deutlich stärker, um zum Beispiel für das Jobticket und eigene Haltestellen zu werben. Der MDV-Raum ist ein ideales Testlabor, das in den vergangenen Jahren im positiven Sinne Lösungen geliefert hat, die bundesweit adaptiert werden könnten.

Im MDV ist die Zukunft also gesichert?

Ich sage Ihnen nun eine Wahrheit, der wir ins Gesicht schauen müssen: Es sieht trotz 9-Euro-Ticket und vor allem der vielen Angebotserweiterungen im MDV zunehmend prekär aus.

Was meinen Sie damit?

Wir haben im Moment eine spezielle Situation. In den 90er-Jahren musste das Verkehrsangebot mangels Interesse massiv reduziert werden. Seit 2010 erkennen Politik und Gesellschaft den ÖPNV wieder als attraktiven Lösungsweg. Und jetzt, im Jahr 2022? Ja, wir haben viele Fürsprecher*innen. Bund, Land, Kommunen und die Bevölkerung – viele finden den eingeschlagenen Weg im MDV prima. Doch wir müssten möglicherweise demnächst ausgerechnet das Angebot massiv abbauen, und zwar so stark wie noch nie.

Woran liegt denn dieser Widerspruch?

Wir haben die größte Kostenexplosion seit der Wende. Die Energie- und Kraftstoffkosten steigen massiv, die Preise bei Dienstleistern und Investitionen ebenfalls, dazu gibt es einen massiven Fachkräftemangel, und Corona hat uns ein Minus in der Fahrgastnachfrage gebracht. So stehen im MDV ungeplante Kosten bzw. Erlösminderungen von insgesamt fast 70 Millionen Euro pro Jahr auf der Tafel. Die Folge: Wir müssten Verkehre im ländlichen und städtischen Raum stark reduzieren, mindestens um eine zweistellige Prozentzahl. Ein Großteil der Verkehrsunternehmen im MDV weiß im Moment nicht, ob es in 2023 seine Leistungen in der aktuellen Größenordnung weiter anbieten kann.

ABO Flex: Fortführung des 9-Euro-Tickets

Ist hier eine Lösung in Sicht?

Bisher leider nicht. Unser Branchenverband VDV, aber auch die Landesverkehrsminister haben im Zuge der 9-Euro-Ticket-Diskussionen gegenüber dem Bundesverkehrsminister Wissing diese Situation kommuniziert. Wir brauchen in den nächsten Wochen eine Antwort. Denn Stand jetzt lässt sich nicht sagen, wie genau sich die Situation in den nächsten Monaten auflösen wird und welche Rahmenbedingungen wir haben werden. Erhöhen wir Fahrpreise mehr denn je? Müssen die Aufgabenträger und Unternehmen die Verkehrsangebote reduzieren? Ausgerechnet nach einer Zeit, in der das 9-Euro-Ticket und die realisierten Verkehrskonzepte so erfolgreich waren? Das wäre absurd – aber darauf könnte es hinauslaufen.

Inwiefern spielen die regelmäßigen Preisanpassungen im August hier hinein?

Diese Situation macht jedem deutlich, dass die Preisanpassungen zum 1. August ein unumgängliches Finanzierungsinstrument sind. Das bringt den Verkehrsunternehmen jährlich etwa zwölf Millionen Euro für die Finanzierung der laufenden Kosten und nötigen Investitionen ein – aber das 70-Millionen-Euro-Loch bleibt dennoch.

Das könnte ein durchaus düsteres Bild werden, das Sie da skizzieren...

Ja, aber wir sehen uns auch in der Verantwortung, einen Beitrag zur Lösung dieser besonderen Situation zu leisten. Die Verkehrsunternehmen im MDV werden ab August neue Produkte wie zum Beispiel das ABO Flex anbieten. Das ist unsere anteilige Fortführung des 9-Euro-Tickets. Man bezahlt dabei einen Grundbetrag von 6,90 Euro pro Monat und bekommt dann bei jeder Einzelfahrt bis zu 50 Prozent Rabatt – im gesamten MDV-Gebiet. Die Mindestlaufzeit beträgt nur sechs statt wie bisher zwölf Monate. Das ist ein echt attraktives Angebot für viele Mobilitätszwecke und wir hoffen, dass unsere Kundinnen und Kunden hier so aktiv mitmachen wie beim 9-Euro-Ticket. Zudem sind wir beispielsweise mit dem Modellprojekt STADTLand+ in einem Bundesprogramm zur Stärkung des ÖPNV und erhalten dadurch ca. 20 Millionen Euro für 17 größere innovative Maßnahmen in unserer Mitteldeutschen Region. So können wir unseren Teil zur aktiven Verkehrswende in Mitteldeutschland beitragen. Und das geht nur mit dem sehr lebendigen Teamwork, das wir mit unseren Gesellschaftern in den letzten Jahren an den Tag gelegt haben!

Was verstehen Sie unter diesem aktiven Teamwork?

Wir sind zugegeben keine "Sprinterbranche" und haben dennoch gerade in der Corona-Zeit gelernt, deutlich agiler und schneller zu reagieren. Und gemeinsame Mobilitätslösungen über Gebietsgrenzen hinweg auf den Weg zu bringen. Diesen Schwung behalten wir bei, um auf neue globale Herausforderungen wie den Krieg in der Ukraine und die steigenden Energiepreise reagieren zu können. Hier hängen sich alle mit rein: von den Menschen in den Verwaltungen bei den Verkehrsunternehmen, den Aufgabenträgern bis zum Fahr- und Servicepersonal in Bus und Bahn. Sie alle gehen das Tempo mit – und dafür bin ich persönlich und wir alle im MDV unglaublich dankbar. Und ich bin überzeugt davon, dass wir mit diesem Spirit auch die kommenden Monate und Jahre gut zusammen an einem Strang ziehen und die Notwenigkeit einer echten Verkehrswende pushen können!

Bildquelle: Christian Hüller


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